Eigentlich sollten uns Fussballfans die vergangenen Tage ungetrübte Freude bereiten… war doch da zuerst dieses äusserst unterhaltsame und denkwürdige 4:4 der Nationalmannschaft vom vergangenen Dienstag, dann die belustigende Heimniederlage von Magaths Millionentruppe, die den Wolfsburgern den letzten Tabellenplatz beschert, die Demontage der bis dahin zweitbesten Defensive der Bundesliga unter stummer Beobachtung durch Campino, das rasante Ruhrpottderby in Dortmund und…
…na klar: der mitreissende 3:1-Sieg unserer Eintracht gegen Hannover 96! Mirko Slomka, der Trainer der Niedersachsen, gesteht im Interview, dass den wie entfesselt aufspielenden Adler nichts entgegenzusetzen war, das Aktuelle Sportstudio verfällt in Lobeshymnen und die BILD-Zeitung titelt (nicht besonders einfallsreich): „Fussball 3000“. Zu sehen, wie die Jungs das unglückliche 0:2 in Mönchengladbach weggesteckt haben und weiterhin an der Philosophie festhalten, mit kompromisslosem Offensivfussball auf Sieg zu spielen, macht unheimlich viel Freude und lässt immer mehr darauf hoffen, dass wir eine begeisternde Saison erleben werden!
Und dennoch legt sich seit zwei Wochen ein Schatten über die Fussballszene. Unter dem Titel ‚Sicheres Stadionerlebnis‘ erarbeitete die vom Ligaverband neugegründete Kommission Sicherheit, der auch Eintracht-Vorstandsmitglied Axel Hellmann angehört, ein für Bundes- und 2. Liga gültiges Strategiepapier, das – sollte es nicht zu massgeblichen Korrekturen kommen – eine Zäsur für den deutschen Profifussball und die vielfältige Fanszene darstellen dürfte.

Auszug aus dem Strategiepapier ‚Sicheres Stadionerlebnis‘ (zum Vergrössern anklicken)
Eine hervorragende Bewertung des Papiers findet der interessierte Leser im Blog BEVES WELT (Artikel „Fussball, Fans und Sicherheit“), der man sich uneingeschränkt anschliessen kann.
[Anmerkung: alle weiteren und aktuelleren Artikel zum Thema hier im Blogarchiv]
Nur eines zum Inhalt – in der Einleitung der Ausarbeitung heisst es wortwörtlich auf Seite 5: […] „Beim Blick auf die Veranstaltungslage in den höchsten deutschen Spielklassen ist festzustellen, dass Infrastruktur und Spielorganisation im Zusammenspiel aller Sicherheitsträger sowie der Zuschauerservice bereits heute auf höchstem Niveau ist und Probleme lokal gelöst werden […]
Und: […] „Ziel ist es, das Stadionerlebnis sowohl in der subjektiven Wahrnehmung als auch in der objektiven Beurteilung weiterhin sicher zu gestalten“ […] (Hervorhebungen durch den Autor des Blogs)
Dem o. g. Eingeständnis, dass bereits heute alles bestens geregelt ist, folgt dann jedoch ein drastischer Forderungskatalog, der Repressalien, Kollektivbestrafungen, eine Gängelung der Fans und fragwürdige Eingriffe in Persönlichkeitsrechte beinhaltet. Kostengünstige Stehplätze, Fahnen, Fanclubs und Auswärtsfahrten werden plötzlich als Privilegien gesehen, die auch bei Einzelverstössen jederzeit zu entziehen sind. Das ist in dieser Form nicht hinzunehmen und betrifft nicht nur den im Fanclub organisierten Kurvensteher, sondern jeden Fussballbegeisterten, der den Stadionbesuch der sterilen Sportsbar mit Sky-TV vorzieht.
Einerseits implizieren die vorgeschlagenen Massnahmen, dass in den Stadien im deutschen Profifussball die gerne zitierten ‚bürgerkriegsähnlichen Zustände‘ herrschen. Andererseits können DFB und Politik bis zum heutigen Tage den vermeintlichen Anstieg von Gewalt im Rahmen von Fussballspielen nur mit subjektiven Eindrücken belegen. Insbesondere diesen Punkt nehmen die Verantwortlichen von Union Berlin zum Anlass, um sich in ihrer Stellungnahme zum Strategiepapier gegen die Vorschläge von DFB / DFL zu stellen (siehe Positionierung des Präsidiums 1. FC Union Berlin eV.).
Die Antwort der ‚Eisernen‘ – der sich offiziell in ähnlicher Form u. a. mittlerweile auch die Vereine Hertha BSC, FC Augsburg, VfL Wolfsburg, Fortuna Düsseldorf und FC St. Pauli angeschlossen haben – verdeutlicht, dass „DFB und DFL offenkundig einer Fehleinschätzung der gegenwärtigen Tendenzen und darauf aufbauend falschen Schlussfolgerungen unterliegen“. Weiter heisst es bei Union Berlin: […] „Als Hauptargument wird derzeit wieder eine vermeintliche Eskalation von Gewalt in den und um die Fußballstadien angeführt, die sich jedoch durch exakte und belastbare Zahlen kaum nachweisen lässt (so fehlt es bis heute an einer nachvollziehbaren Aufschlüsselung der Verletztenstatistik bei Fußballspielen, ebenso wie in der öffentlichen Diskussion ausgeblendet wird, dass selbst bei unbereinigter Statistik beispielsweise das Münchener Oktoberfest im Vergleich zum Bundesligafußball eine „Bürgerkriegszone“ darstellen müsste). Hinzu kommt, dass das vermeintliche subjektive Bedrohungsgefühl zumindest aus der Masse der fast zwanzig Millionen Stadionbesucher gar nicht artikuliert wird, sondern ebenfalls fragwürdig leichtsinnig und unbewiesen ins Feld geführt wird“ […]
Wir fragen uns, wie es zu der Schieflage in der Bewertung der Situation durch DFB und DFL kommt? Vielleicht hilft ein kurzer Blick zurück…

ARD-Poster ‚Helden‘
Sommer 2011: Gegen Ende der Vorsaison kommt es zu einigen Vorfällen (auch in Frankfurt), die von den Medien unverhältnismässig aufgebauscht werden. Die Politik mischt sich ein, so auch Hessens Innenminister Boris Rhein. Erste Forderungen zur Bändigung der „Chaoten und Randalierer“ werden laut. Der DFB verhängt unsinnige Pauschalstrafen gegen Fans und Vereine. Dennoch startet die ARD-Sportschau – augenscheinlich noch berauscht von der Berichterstattung über das Sommerfest der Frauen-WM im eigenen Lande – mit einer peinlichen City-Poster-Kampagne die Vermarktung der kommenden Saison. Werbewirksame und bewusst eingesetzte Verstärker: emotionalisierte Fans und Leuchtmittel (siehe Abb.)!
Im Laufe der Saison 2011/12 wird allerdings jedes in Stadien abgebrannte Bengalo medial genutzt, um eine vermeintliche Eskalation auf den Rängen darzustellen. Platzstürme werden durch TV und Presse plötzlich zu Gewaltexzessen überzeichnet – doch wo genau ist der anscheinend so schlimme Unterschied zwischen den Zuschauern, die unsere Helden 1954 über den Rasen des Berner Wankdorfstadion trugen oder den erst feiernden, dann bestürzten Schalke-Fans bei der Meisterschaft der Herzen 2001, zu den Düsseldorfer Anhängern beim Relegationssieg gegen Hertha BSC 2012? Und wieviele Verletzte gab es beim Aufstiegsjubel der Eintrachtfans vergangene Saison in Aachen? Ach, es gab gar keine?
Im November 2011 bricht der DFB die Gespräche mit der Faninitiative Pyrotechnik legalisieren – Emotionen respektieren kommentarlos ab (auch wenn ich es ausdrücklich nicht befürworte: dass aus einer Protesthaltung heraus anschliessend in den Stadien noch heftiger gezündelt wird, hat sich der DFB damit wohl selbst zuzuschreiben). Fast gleichzeitig bildet sich die Task Force Sicherheit – auch auf Druck der Politik. Der Sicherheitsgipfel im Juli 2012, in dessen Rahmen die Vereine (Ausnahme Union Berlin) den Verhaltenskodex unterzeichnen, zeigt dann deutlich den eingeschlagenen Weg: die Innenminister der Länder (Bundesinnenminsterkonferenz) und DFB verlangen von den Profiklubs eine klare Haltung und die uneingeschränkte Unterstützung beim, äh… „Kampf gegen den Terror“? Die Vereine scheinen in der Mehrheit diese Richtung mitzugehen.
Wir wollen nichts unter den Teppich kehren. Es gibt auch im Umfeld des Fussballs durchaus erschreckende Auswüchse – zum Beispiel der Überfall auf einen M’gladbacher Fanbus. Doch diese finden in der Mehrheit ausserhalb der Stadien statt und sind nicht dem Fussballfan und den Vereinen pauschal anzulasten. Die vorgeschlagenen Massnahmen des Ligaverbandes greifen jedoch nicht bei Fällen, die generell zu unseren gesellschaftlichen Problemen gehören. Oder verpflichtet der ADAC jeden Autofahrer dazu, Repressalien durch die Verkehrspolizei hinzunehmen, weil es gefährliche Drängler auf Deutschlands Autobahnen gibt? Anderes Beispiel: Würdest Du, lieber Leser, akzeptieren, Dich beim Betreten des Hamburger DOM an einer Einlasskontrolle komplett zu entkleiden und durchsuchen zu lassen, weil es bei dem Volksfest desöfteren Messerstechereien gab?
Leider muss man zusammenfassend feststellen: Die Motivation und die Inhalte des Strategiepapiers Sicheres Stadionerlebnis zeugen von einer Sichtweise fernab der Realität. In Konferenzräumen und Businesslogen hat sich eine Welt entwickelt, die auf dem Schulterschluss von Medien, Politik, Wirtschaft und Funktionärstum basiert. Wer sich in dieser abgeschotteten Welt bewegt, versteht nicht mehr, was in den Kurven und Rängen des Stadions passiert. Der normale Fan wird mit mitleidvoller Geste als anachronistisch betrachtet. Familienväter mit ihren Kindern sollen Kunden werden, keine Schlachtenbummler mit möglichen Missfallensäusserungen. Kuttenträger sind aus dem Blick der ‚Macher‘ nur noch im Liga-Trailer der DFL existenzberechtigt, um für ein buntes Bild zu sorgen. Alles, was nicht in das Weltbild der Verantwortlichen passt, wird früher oder später verschwinden.
Wohin die Entwicklung zur totalen Kommerzialisierung beispielsweise führen kann, liess sich erst wieder vergangenen Dienstag beim Länderspiel in Berlin beobachten. Erste Halbzeit, Spielstand 3:0, die deutsche Nationalmannschaft bietet ein mitreissendes, sensationelles Match. Auf den Rängen aber herrscht phasenweise eine Totenstille, als ob zur Gedenkminute aufgerufen wurde. Ist das das vom DFB angestrebte Stadionerlebnis?
Die Profivereine haben jetzt pflichtgemäss ihre Stellungnahmen zum Thema eingereicht, die im Dezember auf einer gemeinsamen Konferenz besprochen werden. Seitens der Eintracht wurde bei einem Treffen mit Fanvertretungen vergangenen Donnerstag mitgeteilt, dass deren Meinung im Statement Berücksichtigung findet (Nachtrag vom 22.10.2012: Link zur beachtlichen Stellungnahme s. u.!). Dennoch überwiegt die Skepsis, dass sich eine breite Mehrheit an Vereinen findet, die sich schützend vor die Belange und Bedürfnisse der Fans stellt. Die Stellungnahmen dürften in der Gesamtheit eher zustimmend ausfallen
Der Fussball, so wie wir ihn kennen, steht spätestens jetzt vor einem Scheideweg…
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Liebe LeserInnen: Ich freue mich gerade bei diesem Thema auf Euer Feedback und Hinweise, falls ich eigenen Fehleinschätzungen oder -informationen unterliege! Weitere Entwicklungen in der Causa Sicheres Stadionerlebnis werde ich natürlich in Folgeartikeln begleiten!
NACHTRAG: hier der Link zur überarbeiteten zweiten Version des Konzepts Sicheres Stadionerlebnis mit Gültigkeit für die Konferenz am 12.12.!
[Weiterführende Links: das Strategiepapier ‚Sicheres Stadionerlebnis‘ des Ligaverbandes im .pdf-Format | Politik macht Druck (faz.net vom 22.10.2012) | „Da reden Personen, die keine Ahnung haben“ (11freunde.de-Interview mit Ex-DFB-Sicherheitschef) | Offizielle Stellungnahme der Eintracht Frankfurt Fussball AG]